Whole Exome Sequencing (WES) ist ein flexibles diagnostisches Werkzeug für genetisch bedingte Erkrankungen, insbesondere für Entwicklungsstörungen, deren Ursachen oft in neu aufgetretenen (“de novo”) genetischen Veränderungen liegen. Es wird angenommen, dass bis zu 60% der schweren Entwicklungsstörungen durch solche de novo Varianten verursacht werden. Die Exom-Trio-Analyse, bei der die Varianten des Kindes und seiner Eltern abgeglichen werden, vereinfacht die Identifizierung dieser de novo-Varianten erheblich. Zusätzlich ermöglicht WES die spätere Erweiterung oder Aktualisierung der Diagnostik basierend auf neuen Erkenntnissen oder zusätzlichen Symptomen.
WES ist flexibel einsetzbar für verschiedene Indikationen, insbesondere für ursächlich ungeklärte Entwicklungsstörungen, aber auch für alle anderen Erkrankungen, die durch genetische Varianten in mehreren verschiedenen Genen bedingt sein können.
Da Entwicklungsstörungen sehr oft sporadisch, d.h. als Einzelfall in der Familie auftreten, ist es naheliegend, neu aufgetretene (“de novo”) Veränderungen in Genen, die z.B. bedeutsam für die Entwicklung und Verschaltung von Neuronen sind, als häufige Ursache zu vermuten. Zahlreiche Studien in den letzten Jahren, in denen Personen mit schwerer Intelligenzminderung (IQ<50) mittels Hochdurchsatz-Techniken wie der Exom-Sequenzierung untersucht wurden, konnten bestätigen, dass, neu entstandene genetische Veränderungen offenbar zu einem großen Teil zur Ursache der schweren Intelligenzminderung beitragen (z. B. Vissers L. et al, Nat Rev Genet, 2016; Wieczorek D. Med Genet, 2018). Man geht nach diesen Studien davon aus, dass bis zu 60% der schweren Entwicklungsstörungen durch de novo Punktvarianten und kleineren Insertionen und Deletionen verursacht werden, wobei eine große genetische Heterogenität zu beobachten ist. Aber auch für Entwicklungsstörungen mit autosomal-rezessivem oder X-chromosomalem Erbgang ist die Exom-Sequenzierung längst zur Methode der Wahl für die erweiterte Diagnostik geworden (Manickam K et al, Genet Med. 2021).
Um bei der aufwändigen Auswertung miteinbeziehen zu können, welche Veränderung von einem Elternteil ererbt wurde, oder neu entstanden ist, sollte bei dieser Fragestellung vorzugsweise eine Exom-Trio-Analyse durchgeführt werden. Das heißt, dass die parallele Analyse von Kind und Eltern dazu genutzt wird, um Varianten, die beim Kind gefunden wurden, mit den Eltern abgleichen zu können. Im Vergleich zu einer Singleton-Analyse, bei der nur die Blutprobe der betroffenen Person untersucht wird, erleichtert die Trioanalyse die Auswertung erheblich und erhöht die Detektionsrate absolut um bis zu 16% (Farwell KD et al, Genet Med, 2015), was überwiegend durch die dann einfache Identifizierung der de novo-Varianten erklärt werden kann. Entscheidend ist darüber hinaus, dass detaillierte klinische Informationen über den Indexpatienten, also die betroffene Person, vorliegen.
Vor der Untersuchung mit WES muss immer eine genetische Beratung erfolgen. Inhalt der Beratung ist dabei insbesondere auch, wie mit sogenannten Zusatzbefunden umgegangen werden soll. Unter Zusatzbefunden versteht man zusätzliche genetische Informationen, die mit der Fragestellung nicht unmittelbar in Zusammenhang stehen, jedoch für die betroffene Person von klinischer oder therapeutischer Relevanz sein können. Bei Minderjährigen dürfen, entsprechend dem in Deutschland geltenden Gendiagnostikgesetz, Varianten die ursächlich für spätmanifestierende Erkrankungen sein können, nicht mitgeteilt werden und sollten daher möglichst nicht in die Auswertung einbezogen werden.
Zusätzlich zur Diagnostik von Entwicklungsstörungen oder auch anderen „Seltenen Erkrankungen“ bietet WES die Möglichkeit, die erfolgte Diagnostik zu einem späteren Zeitpunkt zu erweitern oder zu aktualisieren. Einmal als Datensatz erstellt, lassen sich die Sequenzdaten für jedes im „Whole Exome“ enthaltene Gen auswerten. Dies kann wünschenswert sein, wenn auf Basis neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse weitere Gene als ursächlich für die ursprüngliche Indikation bekannt werden oder auch wenn aufgrund weiterer klinischer Symptome die Indikation differentialdiagnostisch erweitert werden soll.
Darüber hinaus kann die WES sehr flexibel und individuell bei Indikationen eingesetzt werden, für die technisch keine Panel-Analyse angeboten wird (indikationsspezifisches Exom/Flexom). Hierbei definiert man flexibel, entsprechend der klinischen Symptomatik, ein virtuelles Genpanel. In die Auswertung der WES-Daten werden dann ausschließlich diese, mit der jeweiligen Symptomatik/Erkrankung assoziierten Gene einbezogen.
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